„Ich wollte Kunsthandwerker werden, … ein Designer oder ein Gebrauchsgraphiker … Ich wollte nicht Maler werden, das kam später.“ Willem de Kooning setzt 1926 von Holland aus ohne Papiere mit dem Schiff nach New York über. Tatsächlich sollte er hier neben Arshile Gorky, Jackson Pollock, Marc Rothko, Barnett Newman, Clyfford Still, Robert Motherwell, Clyfford Still und Franz Kline zu einem derjenigen Künstler avancieren, die es schaffen, die Ablösung der Jahrhunderte lang gültigen Vormachtstellung der europäischen Moderne durch die USA herbeizuführen. Bereits in den 1940er Jahren wurde die Gruppe unter dem Begriff Abstrakter Expressionismus zusammengefasst, wobei die Werke jedes einzelnen Künstlers damit nur sehr allgemein klassifiziert werden können. Expressives und Abstraktes der frühen Moderne wird bei jedem Einzelnen auf individuelle Weise weit zurück gelassen; es geht – vor dem Hintergrund der Écriture automatique der Surrealisten – seit dem Zweiten Weltkrieg um mehr. De Kooning bezieht sich dabei in seiner Malerei auf das New Yorker Umfeld, auf Erfahrungen und Bilder städtischer Unüberschaubarkeit, Schnelllebigkeit und Flüchtigkeit sowie auf Eindrücke während seiner von ihm so geliebten Ausflugsfahrten auf Landstraßen und Highways. Im Grunde gibt es denn auch nur zwei Sujets in seinem Werk, das seinen Höhepunkt in den Gemälden der zweiten Hälfte der 1970er Jahre findet: Landschaft und Figur. Dabei variiert er die formalen Lösungen seiner nicht kalkuliert gesteuerten Malerei in Serien, die keinen bewusst gesetzten Endpunkt finden. Das gilt auch für die Werke der Serie Woman, die er 1950 beginnt.
Dieser Reihe lässt sich auch das der Sammlung zugehörige Werk zuordnen. Es ist keines seiner großformatigen Ölgemälde, sondern die Malerei entwickelt sich auf einer Doppelseite der New York Times vom 15. November 1970, ohne dass damit das Entstehungsdatum sicher benannt werden könnte. Nur durch die Signatur ist womöglich zu sichern, dass es sich nicht um ein newspaper drawing handelt, also um eine autonome Malerei ohne Einsatz des Pinsels, die bei Durchführung seiner Gemälde regelmäßig entsteht: De Kooning verwendet „Zeitungspapier, das er auf die feuchte Farbe klatscht, um den Trocknungsprozess aufzuhalten.“ (Bernhard Mendes Bürgi, in: Ausst.-Kat. 2006, S. 27). Charakteristisch für die Woman-Serie ist, dass sich jeweils aus einem Gewirr von Linien und verwischten Farbflächen voluminöse weibliche Formen ausmachen lassen. Diese sind im vorliegenden Werk in den im Zentrum rosa ausgeführten Partien als ein mit gespreizten Beinen posierender nackter Torso zu erkennen, was gegen das Vorliegen eines Abdrucks aus einem großformatigen Werk spricht.
Damit rückt das Bild thematisch in die Nähe der 1967 begonnenen Serie „Women on a Sign“, mit der de Kooning auf flüchtig im Vorbeifahren erfasste Motive auf Werbeplakaten rekurriert und mit diesem Verweis auf die Alltagskultur Verbindung zur Pop Art aufnimmt. In der monumentalen Wirkung sowie in der Wahl der auf dissonante Kontraste abstellenden Farbkonstellation und dem spannungsreichen Gleichgewicht, das zwischen der Expressivität des dramatisch über das Blatt geführten Pinsels und der Bildkonstruktion liegt, erweist sich das Werk in jedem Fall als ein überaus charakteristisches. Es wird deutlich, dass de Kooning seine Malerei grundsätzlich als Ereignis versteht. Jedes seiner Werke enthält eine Fülle von gesehenen Bildern und Erlebnissen, die jedoch nicht aufgeschlüsselt oder nacherzählt werden sollen. Vielmehr appelliert de Kooning an den Betrachter, sich ohne vorgegebene Botschaft auf eine eigene individuelle Entdeckungsreise zu begeben und das Bild für sich selbst zum Ereignis werden zu lassen.
Werke in der Sammlung Ludwig Koblenz
Ohne Titel, 1970, Öl auf einer Seite der New York Times vom 15.11.1970, auf Leinwand aufgezogen, 58 x 75 cm, Inv. Nr. LM 1992/5
Audioguide Willem de Kooning – Untitled (Sound Design):