Jean Olivier Hucleux

Jean Olivier Hucleux beginnt auf den Rat von Freunden hin 1971 mit den großformatigen Friedhofs-Darstellungen, die nach seinen vor Ort in Andrésy angefertigten Fotografien entstehen. Zu diesem Zeitpunkt sind ihm Werke amerikanischer oder europäischer Fotorealisten beziehungsweise Hyperrealisten – wie Don Eddy, Richard Estes oder Chuck Close, Franz Gertsch oder Gerhard Richter – völlig unbekannt, überhaupt ist ihm nicht einmal die Kategorisierung geläufig. Erst Besuche in einer Bibliothek in Paris, wo er in Kunstbüchern studiert und sich für Cézanne und Giacometti im Besonderen begeistert, führen ihn an die Geschichte der Malerei heran.

Seine Entscheidung, sich seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre vollends der Malerei zu widmen, erweist sich als befreiend und richtig: Er wird zusammen mit den genannten, bereits international bekannten Künstlern der USA, Deutschlands und der Schweiz von Jean Christophe Ammann für die von diesem zusammengestellte Sektion „Realismus“ auf der von Harald Szeemann organisierten documenta V ausgewählt. Pontus Hulten, Direktor des Musée national d’art moderne in Paris, wird in Kassel – wie viele andere – auf die beiden ausgestellten Bilder, nämlich „Cimetière de voiture“ und „Cimetière n° 1“, aufmerksam und widmet Hucleux 1979 als Erster in Frankreich eine umfassende Ausstellung. Dabei organisiert er keine Einzelausstellung, Hucleux hat noch kein umfangreiches Werk vorzuweisen, sondern präsentiert die Reihe der Cimetières und Portraits bezeichnenderweise gemeinsam mit den fotorealistischen Gemälden und Skulpturen der US-Amerikaner Chuck Close und John De Andrea.

Für Hucleux musste seine Arbeit von Beginn an einer bestimmten Logik folgen. Seiner Auffassung nach versteht man die Dinge, die man nicht ins Mündliche übertragen kann, wenn man sie „analysiert“. So spricht er in Interviews immer wieder von bestimmten Zahlen, die für ihn eine Bedeutung haben: „Für mich bedeuteten sie etwas. 5 ist die Basis einer Pyramide, 1 ihre Spitze, unten stehen 2 und 3.“ (in: Ausst.-Kat. 2000, S.18, Übers. d. Verf.). Es sind die Zahlen 1 bis 7, die ihn beschäftigen, ebenso wie die grafischen Darstellungsformen einer Pyramide und eines Dreiecks.

„Cimetière n° 1“ nun zeigt eine fotorealistische Aufsicht auf das von der Sonne beschienene, mit natürlichem und künstlichem Blumenschmuck versehene Grab der Familie Bibollet-Croset und seine angrenzenden Gräber. Als erstes Werk der Serie steht es mit Hucleux´ Zahleninterpretationen für das Prinzip. Peter Ludwig erwarb auch das fünfte Werk dieser Serie: Die Zahl 5 bezieht Hucleux auf einen Stern und damit auf das Leben. Das einnehmende Format von 2 x 3 Metern, das jedes der sieben Werke aufweist, ist auf der Basis von Hucleux’ Zahlenverständnis bewusst gewählt: In der Multiplikation der Höhe und Breite lassen sich die Masse auf das Lebenbeziehen. Die Beschränkung wiederum auf sieben Werke dieser Serie lässt sich schließlich ebenso auf Hucleux’ Überlegungen beziehen: Mit dem siebten Bild ist man im Zentrumangelangt, hat das Göttliche erreicht.

Die Anfertigung jedes der Bilder kostete ihn drei bis sechs Monate Zeit, jeden Tag arbeitete er etwa 15 Stunden. In jede einzelne Komposition flossen mehrere Fotografien unterschiedlicher Standpunkte und Beleuchtungssituationen mit ein, wodurch erst der – an sich ja falsche – Anschein einer gemalten Fotografie entstehend kann. Das Motiv des Cimetièreist für Hucleux weder beängstigend oder erschreckend, noch gar verspottend gemeint (etwa indem er sich auf den künstlichen Blumenschmuck beziehet). Es ist die Ruhe und Erhabenheit, die Friedhöfe auf ihn ausstrahlen. Hucleux fühlt sich an diesen Orten wohl. Die nasse oder ausgetrocknete Erde, die Kieselsteine, eine Plane über einem frischen Grab, die Spiegelungen und Schattenwürfe auf den glänzenden, unterschiedlich farbigen Marmor- beziehungsweise Steinsorten – das alles übt eine große Faszination auf ihn aus. „Ein Friedhof“, sagt er, „ist eine Summe“, ohne dass er präzisieren kann oder will, was genau er damit meint. Ein Friedhof gilt ihm als Kondensat der Welt und des Lebens, das viel intensiver ist, als es Worte auszudrücken vermögen. Jedes der minutiös ausgeführten Bilder sollte diese hieraus resultierende Tiefe und unverrückbare Ruhe ausstrahlen.

Werke in der Sammlung Ludwig Koblenz

Cimetière n° 1, 1972, Öl auf Holz, 200 x 300 cm, Inv. Nr. LM 1992/64

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