Jean-Michel Alberola findet seine Inspirationsquellen in der Kunstgeschichte ebenso wie in der Alltagskultur oder gar im Comic. Häufig mischt er mythologische mit christlichen Themen und afrikanischer Volkskunst. Zu seinen immer wiederkehrenden Sujets gehören das biblische Thema „Suzanne et les vieillards“ – Susanna und die Alten oder auch Susanna im Bade – und die mythologische Darstellung von „Diana und Actaeon“.
Diese zwei Themen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, verfügen jedoch über eine innere Verbindung: In beiden Szenen geht es um die Kraft des „Blicks“ – besser gesagt des verbotenen Blicks. Die aus dem Buch Daniel stammende Geschichte von Susanna im Bade erzählt, wie Susanna, die schöne fromme Frau Jojakims, beim Baden in ihrem Garten von zwei Richtern (oder Alten) beobachtet wird, die sie zum Beischlaf zwingen wollen. Susanna bleibt, trotz der Androhung, sie des Ehebruchs mit einem jungen Mann zu beschuldigen, standhaft. Es kommt schließlich zum Prozess, in dem Susanna des Ehebruchs beschuldigt und zum Tode verurteilt wird. In letzter Sekunde verdankt sie ihre Rettung Daniel, der die Richter im Kreuzverhör ihrer Falschaussage überführt. Susanna kommt frei, die beiden falschen Richter aber werden getötet.
Das Bild „Suzanne et les Vieillards“ aus den Jahren 1985-86 scheint wie der gesamte, über mehrere Jahre hin entstandene Susanna-Zyklus zunächst jedoch inhaltlich nichts mit der Geschichte der Susanna zu tun zu haben. Das vorwiegend in Schwarz und Weiß gehaltene Bild wird durch einen horizontalen Bildstreifen geteilt, auf dem sich nebeneinander symbolhafte Gegenstände wie ein Dreieck, ein Horn, eine Sägeblatt, ein Kreis und ein Messer befinden. Diagonal wird dieser Streifen von einer Art Ruder durchstoßen. Diese Gegenstände lassen sich zumindest im weitesten Sinne auf die biblische Vorlage beziehen, etwa das Horn als Hinweis auf das männliche Geschlecht, das Messer als Sujet des Todesurteils.
Auch eine weitergehende Interpretation des Werkes als Darstellung von der Gegenwärtigkeit Gottes oberhalb der Bildsymbole und das Eingreifen Daniels durch das eindringende Ruder ist denkbar. Hinzu kommt jene Ebene von Symbolen, die wiederum diese Komposition eng an Alberolas eigene Jugend in Nordafrika und seine spanischen Wurzeln knüpfen, zumal das Zeichen des Ruders in weiteren Werken auftaucht, die einen klaren Afrika-Bezug haben (vgl. Suzanne et les vieillards: L’invasion des sauterelles, 1984-85 und Saint Augustin l’Africain, 1985, Abb. vgl. Kat. 1990, S. 57, 59).
Allgemeine Ikonographie und die persönlichen Zeichen verschmelzen hier sinnfällig. Alberola betont selbst: „Der Sinn für Geschichtenerzählen ist in der Malerei verlorengegangen, so wie Poussin z. B. das mit seinen Fabeln gemacht hat. Die Malerei erzählt nur noch Geschichten fürs Auge … Nun gut, ich möchte eine Geschichte erzählen, aber da es keine mehr zu erfinden gibt, gehe ich von einer aus, die uns schon bekannt ist, von der der Suzanne, von der der Diana … Das sind Geschichten aus dem Leben und zwischen diesen beiden füge ich eine dritte, die meine. Auf diese Geschichten lassen sich alle Probleme der Malerei aufpfropfen, d. h. im Sinne des Inhalts.“ (zitiert in: L’Afrique d’Acteon, Interview mit Jérôme Sans, in: Flash Art Frankreich Nr. 2, Jan. 1984)
Zweifelsohne steht für Alberola weiterhin das der Susanna-Erzählung innewohnende Thema des Blicks, des Voyeurismus und Exhibitionismus im Mittelpunkt. Das Sujet bietet ihm die Gelegenheit, nicht nur den Blick des Malers beim Entstehen des Werkes zu reflektieren, sondern insbesondere auch den Blick des Betrachters bei der Rezeption des Gemäldes.
Werke in der Sammlung Ludwig
Suzanne et les Vieillards, 1985-86, Öl auf Leinwand, 251 x 180 cm, Inventarnummer LM 1992/12