Jean-Charles Blais

In der Auseinandersetzung mit den Nouveaux Réalistes, der Pop Art und der Arte Povera, im Besonderen mit den Affiches arrachées, den Plakatabrissen, entsteht Blais’ unverwechselbare Bildsprache, die wesentlich durch das Material des rückseitig verwendeten Bildträgers bestimmt ist. Mit der Übersiedlung in ein neues Atelier in der Nähe des Jardin du Luxembourg im Jahr 1984 sind ihm fortan auch größere Bildformate möglich. Dafür ist das im Ludwig Museum befindliche Querformat ein repräsentatives Beispiel. Auf den riesigen Formaten werden die Gesichter verschwindend klein, die auf Grundformen reduzierten Körper dagegen überproportional groß. Nur wenige assistierende, Raum und Dreidimensionalität andeutende Bildelemente – teilweise vom Bildrand angeschnitten – werden daneben vor einem undifferenzierten Hintergrund formatfüllend hinzugefügt.

Anders als die Affichistes der 1960er Jahre – Jacques Villeglé, Raymond Hains und Mimmo Rotella –geht es Blais nicht um den Reiz von Bildern und Texten, die bei den Ansichtsseiten aus den Einrissen und Fehlstellen mehrerer übereinander geklebter Plakate neu entstehen. Im Vordergrund steht für ihn stattdessen das Material geknitterter, eingerissener, mehrlagiger Oberflächen, was ihn in der Konsequenz dazu bringt, ab 1983 ausschließlich die Rückseiten großer Plakatabrisse zu verwenden. Auf dem Querformat des Ludwig Museums wird deutlich, dass das Papier ehedem für den Transport zu dem zu plakatierenden Ort in der Breite einmal und in der Höhe zweimal gefaltet gewesen ist. Somit ist der Malgrund durch die verbliebenen Linien in acht gleich große Bildfelder aufgeteilt. In dieses vorgegebene Raster spannt Blais vor blauem, undifferenziertem Hintergrund, der vielleicht einen wolkenlosen Himmel markiert, eine Format füllende männliche Rückenfigur, die mit eingezogenem Kopf, weit ausholendem Schritt und nach vorn gestrecktem Arm von rechts nach links schreitet oder rennt. Die Körperachse ist leicht aus der Bildmitte nach rechts verschoben. Auf diese Weise findet die Figur durch die ausholenden Bewegungen und die geduckte, vorn übergebeugte Haltung dennoch ihre „Mitte“ in der vertikalen Bildachse.

Die Komposition liefert eine wie mit dem Teleobjektiv herangezoomte, silhouettenhafte Figur, die einer Filmsequenz im wahrsten Sinn entsprungen zu sein scheint. Wie in der auf schnelles Erfassen des Motivs angelegten Plakatkunst ist die Figur überdies auf ihre Grundformen reduziert. Sie trägt eine rote langärmelige Jacke und eine knöchellange dunkelblaue Hose. Barfuß hetzt sie auf einem unebenen, durch Einrisse und Übermalung mit gelben und weißen Einsprengseln versehenen „Untergrund“ entlang. Die Extremitäten sind im Verhältnis zum Rumpf und Kopf viel zu groß angelegt. Diese bewusste Unproportionalität verleiht der Figur, die mit der linken Hand eine vom oberen Bildrand überschnittene „Stange“ ergreift, etwas Lächerliches, das an Comicfiguren à la Robert Crumbs erinnert. Die „Stange“ ist nicht näher zu bestimmen, in anderen Kompositionen ist sie mit zwei bis drei kleinen grünen Blättern versehen und kann damit als dürres Baumstämmchen erkannt werden (vgl. z.B. „Plus jamais“, in: Ausst.-Kat. Fribourg 1984, Abb. 43).

Das Motiv hat Blais wiederholt aufgegriffen, es, wie er selbst sagt, wie eine Vokabel durchdekliniert. Man ist versucht, mögliche Anregungen sowohl in Henri Matisses Arbeiten als auch in Picassos Komposition „Laufende Frauen am Strand“(1922, Musée Picasso, Paris) zu suchen. Blais nimmt sich – wie er selbst sagt –in der Malerei der anderen nur, was ihn interessiert, ihn voranbringt, weil es für ihn funktioniert. Vor dem Hintergrund der bewußt auf die Rückseite verbannten „verlogenen“ Werbebilder der Konsumwelt scheint die Figur, wie zu einem Sprung ansetzend, nur darauf bedacht, die „Welt-Bühne“ möglichst schnell wieder verlassen zu können. Blais spricht denn auch von einer uns überrennenden Kultur und dem zuweilen persistierenden Unvermögen, sich nicht auf ihr Niveau hochzuarbeiten. Er zitiert dazu aus dem Roman „Die Verführung“von Witold Gombrowicz, in dem der Autor empfiehlt, innerhalb dieses Mythos der Unreife sich selbst eine eigene, beruhigende Subkultur als Zweitresidenz der Kompensation zu schaffen … (vgl. Ausst.-Kat. 1987 o.S.). Blais betont: „Ich male Gestalten, die nicht mehr Personen, sondern Gegenstände sind … Der Körper ist ein Stück Malerei geworden. Allerdings bleibt die Körpergestalt weiterhin bestehen, weil ich mit ihr nie fertig geworden bin“(in: Ausst.-Kat. Hannover 1986, S. 30)

Werke in der Sammlung Ludwig

ohne Titel, 1984, Abtönfarbe auf Plakatabriss auf Holzrahmen befestigt, 298 x 368 cm, Inv. Nr. LM 1992/28

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