La chambre rouge
„Sie fragen mich nach dem Inhalt des Bildes ‚Rotes Zimmer’ … . Ich will damit sagen, daß es vielfältig mit allen meinen anderen Bildern verbunden ist, als ob die einen in der Folge des anderen nichts anderes ergeben sollten als ein einziges Bild, so wie ein Wort in einem Ensemble von Worten zur Herstellung eines Satzes beiträgt. … Genauso ist es in der Malerei.“ (Gérard Garouste, in: Ausst.-Kat. 1987, o.S.).
Maler wie Jean-Michel Alberola, Philippe Favier, Pierre Klossowski und auch Gérard Garouste setzen der demonstrativ alle Konventionen ignorierenden Figuration libre Anfang der 1980er Jahre eine Malerei entgegen, die sich wieder bewusst auf die Tradition der europäischen Malerei und auf deren kulturellen Wurzeln stützt. Bereits heute gilt Garouste in Frankreich als einer der bedeutendsten Vertreter der zeitgenössischen figurativen Malerei. In seinen Werken führt er die klassischen und mythologischen Traditionen der Romantik von Géricault und Delacroix fort, greift aber zuweilen historisch weiter zurück und lässt gerade in den frühen 1980er Jahren auch die unruhig flackernde Linie und Farbigkeit von El Greco (1541-1614) erahnen. Emotionalität und Leidenschaft, ergänzt durch Ironie und Selbstreflexion, sind die Hauptmerkmale seiner Malerei. Garoustes Bilder wirken wie theatralische Inszenierungen, die schon 1982 anlässlich der „Zeitgeist“-Ausstellung die Besucher in Berlin in Bann gezogen haben. „La chambre rouge“ erzeugt einen dieser Höhepunkte an emotional überhöhter Bildwirkung, die durchaus in einer ganzen Reihe von Gemälden aus dem Jahr 1982 in einem biblischen Kontext gelesen, aber nicht zwangsläufig auch dort verortet werden müssen. „Das rote Zimmer“ entfaltet ein geradezu barockes Interieur: Als Zentrum des Bildes dient ein opulentes, rot überzogenes Bett, auf dem ein nackter Mann schläft. Eine junge Frau, ihrerseits in ein langes rotes Kleid gewandet, schleicht aus dem Zimmer heraus. Im Hintergrund öffnen sich drei Fensternischen, die den Blick auf einige von Licht und Sonne durchflutete Bäume und Himmelsfetzen freigeben. Das ornamental gefasste Muster des Teppichs setzt sich scheinbar fort in der Landschaftsszenerie. Die Kleider des Jünglings liegen ungeordnet auf dem Boden vor dem Bett: Der Betrachter kann mutmaßen, dass ein heftiger Liebesakt alle seine Kräfte gefordert hat. Warum die elegant gekleidete Dame das Zimmer verlässt, bleibt offen, ebenso wie ihr Blick und ihre Handgeste, die anscheinend eine Kommunikation mit einer dritten Person aufnehmen. Die malerisch aufgeladene Szenerie lässt dennoch auch an Verrat oder Unheil denken, welches nach dem ausgekosteten Liebesakt eine Sühne zu begleichen sucht. Der Widerspruch in der Szene liegt nicht nur in der Opposition zwischen den nackten und bekleideten Protagonisten, sondern auch in dem Motiv des wie tot daliegenden jugendlichen Mannes und der aus dem Bild schreitenden Frau, die sich konspirativ einem anderen, nicht im Bild verorteten Protagonisten verstohlen zuwendet. Ähnlich wie im Theater erfährt der Zuschauer bei der Betrachtung der in dunklen Farbtönen gehaltenen Bilder von Garouste eine ästhetische Illusion, die ihrerseits eine emotionale Betroffenheit auslöst und den Betrachtenden deshalb ins Drama integriert, ohne ihn vollends teilhaft werden zu lassen.
La vie de campagne
Die im selben Jahr entstandene Zeichnung stellt allein in der Größe ihres Formats eine bildnerische Einheit dar, die sich nicht im Skizzenhaften aufhält. „La vie de campagne“ knüpft in Form und Vokabular an die Schäferszenen des Barock bis hin zum 19. Jahrhundert an, wobei die erotische Komponente hier umgedeutet und neu formuliert wird: Die eigentliche Szene spielt sich zwischen zwei jungen Schäfern (oder Bauern) ab. Der eine, am Boden sitzend, wird von einem Anderen, der hinter einem Baum hervortritt, während er ihn gleichzeitig noch foppt, überrascht. Etwas abgerückt, zum linken Bildrand hin, lagert ein weiterer Bauer, der dem Betrachter unmittelbar entgegensieht. Im buschigen Gras, umrahmt von hohen Bäumen und bewegten, tief herabhängenden Ästen, liegt ein Picknick: ein großer Korb, Früchte, ein Laib Brot und ein großer Krug. Übermächtig – trotz der drei Personen im Bild – geriert sich jedoch die Natur, in der ein unendliches Wuchern und Wachsen spürbar wird.
Werke in der Sammlung Ludwig Koblenz
La chambre rouge, 1982, Öl auf Leinwand, 267 x 311,4 cm, Leihgabe Sammlung Ludwig, Inv. Nr. LM 1992/13
La vie de campagne, 1982, Kohle und Graphit auf Papier, 273,5 x 335,5 cm