ohne Titel, Paris
Georges Rousse ist zugleich (Wand-)Maler, Fotograf und Interventionskünstler. Dabei gelingt es ihm vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen der französischen Malerei zu Beginn der 1980er Jahre, nämlich der Figuration libre, zum einen und der amerikanischen Altmeister der Fotografie Edward Steichen, Alfred Stieglitz oder Ansel Adams bis hin zu Gordon Matta-Clark zum anderen, sowie im Verbund mit Ansätzen aus der amerikanischen Land Art eine sehr außergewöhnliche, individuelle Vereinigung aller drei Bereiche zu schaffen.
Von Beginn an sucht er verlassene, im Verfallen begriffene oder gar zum Abriss anstehende Architekturen beziehungsweise ruinöse Räumlichkeiten auf, für die er sich spontan begeistern kann. Hier richtet er für mehrere Wochen sein Atelier ein, räumt Störendes beiseite, unternimmt Eingriffe in das Vorgefundene, analysiert – auch anhand von Entwurfszeichnungen – die verschieden möglichen Blickwinkel seiner Kamera und den Lichteinfall, und überlegt, welche Brennweite, Belichtung und Filmempfindlichkeit zu wählen ist, bereitet die malerischen Interventionen vor. Am Ende bleibt die Fotografie als eine konstruierte Illusion, die dem Betrachter eine komplexe Interpretation des Raumes – und zwar stets des Innenraumes (mit Ausnahmen während seines Stipendiums in Italien 1986 und neuerdings wieder, etwa in Korea 2000) – bietet. Das führt dazu, dass Rousse bis heute ein Reisender ist, der sich international bewegt.
Dass er zu Beginn der 1980er Jahre mit der Figuration librein Zusammenhang gebracht wird, liegt daran, dass er zu dieser Zeit dem Figürlichen zugewandt ist und sein Malstil enge Parallelen zu den Kollegen dieses Kreises aufweist: Zunächst findet eine Intervention im Raum regelmäßig an der Stelle statt, wo strategisch wichtige Punkte der Architektur auszumachen sind, etwa auf Treppen, an Durchgängen oder an Wänden, die durch einen besonderen Lichteinfall hervortreten. Dort malt Rousse überproportional große Figuren auf die Wände und betätigt sich dann als Fotograf. Die zum Ludwig Museum gehörige Fotografie ist eine charakteristische Arbeit der 1980er Jahre: Schon 1981 unternahm Rousse in Ivry eine Intervention, in der ein im Profil gemaltes Pferd zu sehen ist, vor dem ein junges Mädchen in einem knielangen, gegürteten Kleid steht. In der vorliegenden Arbeit ist daraus ein lediglich mit einem Tanga bekleideter junger Mann mit wilder 80er-Jahre Frisur geworden, der an der linken Hand ein Pferd führt. Dieses blickt nach rechts und stellt so über die gestisch gemalte Partie oberhalb des in den Raum eingezogenen Glasbaus hinweg die Beziehung zu einer zweiten Figur her: Rousse hat hier humorvoll als „Counterpart“ eine nur als Umrisszeichnung gegebene männliche Figur im Anzug mit überschlagenem Bein scheinbar auf den äußeren Rand des Glasbaudachs „gesetzt“. Die buntfarbige Komposition ist augenscheinlich mit flott geführtem Pinsel ausgeführt und die Formen sind auf das wesentliche reduziert. Diese Charakteristika verbinden Rousse mit dem Stil der Figuration libre.
Aber Georges Rousses Malerei ist nicht für die Dauer bestimmt, sondern entsteht für die Fotografie: „Das Foto ist der Vektor, der das … Gebäude und das Künstleratelier zur Einheit verschmelzen lässt.“(Georges Rousse, in: Ausst.-Kat. 2000/2001, S.49) Sie entsteht mit der Absicht, etwas von dem noch Gebliebenen, von dem ehemals Gewesenen, von der vergangenen, belebten Zeit zu transportieren, indem nicht die Malerei im Fokus steht, sondern der gesamte gewählte Raumausschnitt mit Vorder-, Mittel- und Hintergrund.
Trutzenburg
Die Fotografie entstand im Rahmen der im Ludwig Museum 1994 organisierten Einzelausstellung von Georges Rousse, der in der Ruine der unmittelbar gegenüber des Haupteingangs des Ludwig Museums liegenden sogenannten Trutzenburg einen idealen Ort für seine Arbeit gefunden hatte. Die Trutzenburg liegt innerhalb des ehemaligen mittelalterlichen Areals des Deutschherrenordens, dem als Hauptgebäude das heutige Ludwig Museum im Deutschherrenhaus diente. Die Trutzenburg ist in der Zwischenzeit restauriert. Mit der 1993 datierten Arbeit besitzt das Ludwig Museum wiederum ein höchst charakteristisches Werk der 1990er Jahre, das zeigt, wie Georges Rousse in der Zwischenzeit die figürliche Malerei zugunsten der abstrakten, auf farbige Quadrate konzentrierten Malerei aufgegeben hat. Die Vorgehensweise gibt Jocelyne Lupien in einem Brief vom 15. Februar 2000 an Georges Rousse trefflich wieder: „In Deinem Brief beschreibst du auch, wie Du die Quadrierung vornimmst, indem Du eine Zeichnung vor das Objektiv legst, die Du dann auf den jeweiligen realen architektonischen Raum überträgst. … Ich erinnere mich noch an den Tag, als ich Dich endlich bei der Arbeit erlebte. …Magisch! Neben Deinen zahlreichen ‚Baustellen‘ und Werken hast Du damit Dein eigenes System der Abbildung eines Raums geschaffen; ein sehr eigenartiges System, denn es ist utopisch, hybrid, fiktional und in keiner Weise vergleichbar mit dem, was unser ‚normales‘ Auge von der objektiven Welt wahrnimmt. Deine Werke können dem Betrachter aufgrund ihrer oft vertrauten, aber nicht objektiv möglichen Umgebung das Gefühl vermitteln, in das Bild ‚einzutreten‘ und in ihm ‚enthalten‘ zu sein, selbst wenn er fremd bleibt; etwa wie Alice, die, als sie endlich im erhofften Wunderland ankam, sehr bald eine für sie beunruhigende und doch unerklärbar faszinierende Welt erkundete. Sollten die ‚heiligen‘ Räume nicht die Orte sein, die unwiderstehlich und zugleich hoffnungslos unerklärbar sind?“ (in: Ausst.-Kat. 2000/2001, S. 51) Georges Rousse hat die Antwort schon 1993 formuliert: „Ich vermische Malerei und Fotografie wie die Realität und das Göttliche.“ (in: Ausst.-Kat. 1993, Frontispiz)
Werke in der Sammlung Ludwig
ohne Titel, Paris, 1983, Fotografie 2/5, 127 x 158 cm, Leihgabe Sammlung Ludwig, Inv. Nr. LM 1992/73
Trutzenburg, Koblenz,1993 Cibachrome auf Aluminium 1/3 162 x 120 cm Leihgabe Sammlung Ludwig Inv. Nr. LM 1993/80
Audioguide Georges Rousse – Trutzenburg: