Anne und Patrick Poirier

Dépôt de mémoire et d’oubli

„Wir bestehen aus Erinnerung. Die Erinnerung ist das, was uns ausmacht, was unser Wesen ausmacht. Ohne Erinnerung sind wir nichts, nur an Gedächtnisschwund Leidende, in einem ewigen Jetzt Lebende, ohne Vergangenheit noch Zukunft. […] Die Erinnerung ist die Bedingung jedes schöpferischen Aktes, jedes Aufbaus der Zukunft, aber wir bestehen auch aus VERGESSEN. Es gibt keine Erinnerung ohne dieses enorme mächtige Gegengewicht des VERGESSEN. Ist der Schaffende nur ein ARCHÄOLOGE DER ERINNERUNG UND DES VERGESSENS? Wäre somit jede kreative Tätigkeit, jede Entdeckung nur das Ergebnisvon Ausgrabungen der Erinnerung, der Ausgrabung von MNEMOSYNE? […]“(Ausst.-Kat 1994.,S. 180)

Als Anne und Patrick Poirier beauftragt wurden, für den Außenbereich des neu gegründeten Ludwig Museums in Koblenz eine Außenskulptur zu entwickeln, entschieden sie sich für den Ort auf der historischen Mauerkrone des ehemaligen Deutschen Eck, vis-à-vis vom historistischen Denkmal des preußischen Kaisers Wilhelm I., das 1897 eingeweiht worden war und seitdem den historischen Ort am Deutschherrenhaus (Ludwig Museum) durch einen künstlich geschaffenen abgelöst hatte. Im Zweiten Weltkrieg war das Kaiserdenkmal stark beschädigt worden, dann aber Anfang der 1990er Jahre restauriert und im September 1992 wieder öffentlich zugänglich gemacht worden. Das Denkmal selbst demonstriert nicht nur den überzogenen Macht- und Siegesanspruch des preußischen Kaisers, sondern auch bewusst die politische Demütigung Frankreichs. Insofern kann diese gewollte dialogische Begegnung zwischen der von den Poiriers entwickelten „Stätte des Erinnerns und des Vergessens“ kaum sprechender ausfallen. Sie begreift sich in ihrer antikisierenden Form zunächst auch als Referenz zu den historischen Stätten des Deutschen Eck und des Kaiserdenkmal. Darüber hinaus entspricht sie aber vollständig dem künstlerischen Konzept, anhand von erdachten archäologischen Stätten und Fundorten eine neue, sehr poetische Dimension von historischer Erinnerungs- und zeitgenössischer Erschließungsarbeit zu vollziehen. Mit großen Mamorblöcken und -quadern, mit Säulenelementen und einem imposanten Kopffragment inszenieren die Poiriers einen Ort, an dem scheinbar Historie bereits stattgefunden hat, die sich anhand steinerner Relikte künstlerischen Handelns überliefern. In römischen Lettern finden sich dort Notate wie: „Worte sind wie Schatten“, „Finsternis“, „Amnesie“, „Mnemosyne“, „Oculus Memoriae“. Nur allmählich kann der Betrachter sich diese Bruchstücke auch sinngemäß erschließen. Dabei stehen sich Vergessen und Erinnern einander streitend gegenüber… Was wird Überhand gewinnen? Dass Anne und Patrick Poirier ihre eigene Inszenierung eng mit der Mythologie verankert wissen wollen, betont vor allem das Wort „Mnemosyne“, mit dem sie auf die griechische Göttin der Erinnerung verweisen. Erinnern wider Vergessen. Aber welche Dimensionen des Erinnerns können überhaupt erreicht und wieder belebt werden? „Anstelle einer in die Zukunft projizierten Utopie, versucht der Künstler seine utopischen Vorstellungen, seine poetisch-metaphorischen Hypothesen in die Vergangenheit zurückzuprojizieren und auf dem dadurch entstehenden Spannungsfeld zwischen historisch gegebenen, archäologischen Grundstoffen und den Ergebnissen der souveränen künstlerischen Phantasie die Gültigkeit unserer Wertvorstellungen zu untersuchen.“ (a.a.O., S. 9) Die Inszenierung der Poiriers leistet überdies gedanklich einen Brückenschlag zu den Römern an Rhein und Mosel, als Verwurzelung unserer abendländischen Kultur in der klassischen Antike. Sie transferiert so verschiedenste Ebenen der Historie in eine neue Zeitdimension von Gegenwart.

Die Geburt des Pegasus

Aus einer gänzlich schwarzen, antiken Ruinenstätte, die möglicherweise als Reste einer Verwüstung übrig geblieben sind, steigt ein überdimensioniertes goldenes Pferd auf. Anne und Patrick Poirier erzeugen einmal mehr diesen für ihr künstlerisches Konzept so fundamentalen Gegensatz zwischen Zeitgenössischem und (scheinbar) Antikem. So nehmen sie auch hier wieder den Aspekt des Antikischen auf, indem sie eine imaginäre römische Ruinenlandschaft in Holzkohle imitieren. Die Landschaft selbst erscheint kolossal, deutet sie doch ihrerseits Relikte eines Amphitheaters oder eines Stadions an. Das goldene Pferd dagegen muss – in Proportionen richtig verstanden – noch überdimensionierter erscheinen. Während die Antike in der „Rekonstruktion“ nur imitiert wird, verwenden die Künstler bei dem Pferd jedoch das Vorbild einer Pferdestatue des berühmten Manierismuskünstlers Giovanni Giambologna, bzw. von dessen Nachfolger Giovanni Francesco Susini (die Familie machte Abgüsse in Bronze nach dessen Skulpturen. Auch nach Giambolognas Tod führten sie ihre Prozedur weiter, was die genaue Datierung Giambolognas Arbeiten wesentlich erschwert). Ein fast identisches Exemplar könnte das in der Sammlung Lichtenstein, Vaduz, sein (datiert, 1650, Bronze, 37 cm hoch). In ihrem Werk wird das Pferd jedoch deutlich überdimensioniert.

Die inhaltliche wie auch farbliche Kontrastierung der beiden Sujets (antike Stätte und manieristisches Pferd) verdeutlichen das Überwinden des Alten (Antike) durch etwas Neues (Renaissance), wobei sich die Renaissance als Wiederentdeckerin der bedeutenden antiken Zeiten begreift und ihrerseits den Schwerpunkt auf Wissenschaften und Forschungen legt. Die Poiriers vollziehen eine Kombination von Gegensätzlichem, beschwören zugleich Mythisches und schaffen über die Dramatisierung der Ruinen hinaus eine Freilegung von Bewusstseinsstrukturen. Nicht zuletzt schöpfen sie ihre Inspirationen aus ihren wiederkehrenden Aufenthalten in Rom und ihrer intensiven Recherche in den dortigen Gärten, Museen und Ruinen. Dabei stoßen sie immer wieder auch auf die Mythen der römischen Antike, wobei vor allem Pegasus und Medusa eine besondere Rolle für sie spielen. Allein in drei verschiedenen Fassungen formulieren die Poiriers das Motiv des Pegasus zwischen 1984 und 1986, wobei 1984 eine fast gleiche Version mit einem blauen Pferd entsteht, dessen Farbigkeit an Yves Klein erinnert (Abb. vgl. Ausst.-Kat. 1987, S. 128-130). Die goldene Fassung im Ludwig Museum lässt noch deutlich das selbe Blau als Untergrundfarbe durchschimmern. Pegasus, der Sohn des Poseidon, wird von Medusa geboren, nachdem Perseus ihr den Kopf abgeschlagen hat. Er gilt in der Mythologie als geflügelter Götterbote. In der Interpretation der Künstler wird er jedoch als ein nahezu realistisches Tier wiedergegeben, wobei der mythische Kontext sich in der Kontrastierung zwischen antiker Ruinenstätte und der Kopie des Renaissancemodells sowie durch den Titel des Werkes ableitet. Als Lichtgestalt steigt es aus einer verkohlten, verschollenen Welt auf und versinnbildlicht die fruchtbare Wiederentdeckung und Weiterentwicklung der Antike in der italienischen Renaissance. „Die Ruine als Orakel, schließlich als Spiegel,“ (a.a.O., S. 15) möglicherweise auch als Projektionsfläche für die Jetztzeit.

Werke in der Sammlung Ludwig Koblenz

Dépôt de mémoire et d’oubli, 1992, Skulpturengruppe, verschiedene Marmorsorten, 8,5 x 12,5 m, Inv. NR LM 1992/74

Die Geburt des Pegasus, 1988, (aus der Serie Medusa), Pferd aus Gips, blattvergoldet, Ruinenlandschaft, Holzkohle, 119 x 252 x 155,5 cm,  Inv. Nr. LM 1992/39

Audioguide Anne und Patrick Poirier – Pegasus:

 

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